ER – Weil nichts machen nichts ändert

Sie wissen nicht genau, was er gegessen hatte. Doch der Durchfall rettete dem Israeli und seiner Frau wohl das Leben.

Wir treffen das Paar zufällig in Tadapani. Sie haben vor acht Monaten geheiratet, vier Wochen Nepal sind jetzt ihre Flitterwochen.

„Ich muss euch eine Geschichte erzählen“, sagt der Astrophysiker plötzlich. „Wir waren auf dem Annapurna-Circuit mit einer Gruppe anderer Israelis unterwegs.“ Am fünften Tag wird dem jungen Mann mit dem Bart schlecht. Er hat Durchfall, nachts Fieber, Schüttelfrost. Seine Frau, eine angehende Ärztin, ruft Hilfe. Mit dem Helikopter werden die beiden ausgeflogen, in ein Krankenhaus nach Kathmandu. Der Rest der Gruppe wandert weiter. Bis letzten Dienstag.

„Die waren kurz vor dem Thorong La Pass.“ Der höchste Punkt der zwei- bis dreiwöchigen Wanderroute ist 5416 Meter hoch, der Wandertag führt hoch und sofort wieder runter, so hoch darf man nicht zu lange bleiben. Immer wieder sterben Wanderer hier an Höhenkrankheit.

Diesmal war es nicht die Höhe. Fast einen Meter Neuschnee brachte der Ausläufer des Zyklons Hudhud, der die Ostküste Indiens traf.

„So bei 4500 Metern fing es an zu schneien. Ein paar haben sich geweigert weiterzugehen, das hat sie gerettet. Die anderen sind hoch.“

Noch immer ist nicht klar, wie viele Opfer der Schneesturm und die Lawinen im Norden des Annapurna-Circuits in Nepal gefordert haben. Bislang zählen die Retter rund 40 Tote, die Angaben unterscheiden sich je nach Quelle. Für die jungen Israelis neben uns am Tisch sind es Schicksale, Gesichter, Namen.

„Ein Träger hat eine Frau am Arm den Berg runtergezogen, er hat ihr Leben gerettet.“ Andere seien in einer Gruppe runter. „Ein Freund hat zwei Tage bis zur Hüfte im Schnee gesteckt.“ Er wurde gerettet. „Schon komisch, ihn im nepalesischen Fernsehen zu sehen, mit Bandagen an Händen und Füßen.“

Eine junge Frau habe irgendwann nicht mehr gekonnt und sich entschieden, umzukehren und Zuflucht in einem Guesthouse zu suchen. „Wir wissen nicht, was mit ihr ist“, sagt der junge Mann am Samstag.

Das israelische Paar mit der schicksalhaften Geschichte sitzt in Tadapani, einem Ort auf einer Wanderstrecke südlich des tödlichen Annapurnas. Hier fällt kein Schnee, vom höchsten Punkte Poon Hill auf 3200 Metern kann man die Berge am Horizont im Sonnenaufgang aus betrachten. Sie sind zu einer Fünf-Tage-Wanderung aufgebrochen, so wie wir, eine sichere ohne Schnee. Aber trotzdem.

Wie macht man das? Wie geht man weiter wandern, wenn Menschen, die man kennt vermisst, verletzt, vielleicht tot sind? Wenn man nur durch einen Zufall davongekommen ist, durch verdorbenes Fleisch oder dreckiges Wasser?

„Wir waren schon auf zwei schwierigeren Treks, in den Dolomiten und am Mont Blanc. Lawinen, Schneestürme, Erdrutsche. Das sind die Gefahren der Berge“, sagt der Mann mit ruhiger Stimme am Samstag, vier Tage nach dem Sturm.

Vielleicht kann der Mensch nicht so schnell begreifen, was er gerade erlebt hat. Was er gerade das Glück hatte zu verpassen. Vielleicht kommt das viel später. Vielleicht dominiert zuerst das Gefühl, dem Tod davongekommen zu sein. Vielleicht macht man einfach weiter, weil nichts machen auch nichts ändert. Weil es immer noch Hoffnung gibt, sie zu finden, eingeschneit in einer Hütte.

Zwei Tage später finden die Retter die Leiche der vermissten Israelin. Sie ist erfroren.

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